Die Begegnung mit den archäologischen Funden aus dem Neolithikum lehrt uns den Blick auf das, was wesentlich ist und überdauert. Noch heute sendet die Steinzeit Liebesgrüße an uns, so als wenn sie sagen würde, hey, ihr seid einzigartig.
Der Atlantik ist nicht nur für Franzosen ein begehrtes Ferienziel. Das Meer mir seinen Wellen, die endlosen Sandstrände, die frische Luft, da läßt es sich gut sein. In diesem Jahr haben wir uns im Hinterland der Küste umgesehen und sind auf den Spuren von Steinzeitmenschen gewandelt.
Terres Mégalithes
Wir stossen auf sehr viele unterschiedliche Steinansammlungen. Mal sind es geordnete Steinreihen, mal wild durcheinander liegende Steinhaufen, mal protzig stehende Riesensteine. Fast alle sind mehr oder weniger intakt.
Es sind Findlinge. Das sind große, einzel liegende Steine, die während den Eiszeiten durch Gletscher transportiert und geformt wurden.
Menhir, was auf keltisch „langer Stein“ heißt, ist ein aufrecht stehender, unbehauener kultischer Stein. Und wenn dieser waagerecht auf anderen Steinen ruht, spricht man von Dolmen, auf keltisch „Tisch“. Sie wurden wahrscheinlich als Grabstätten genutzt.
Die Steinzeit und wir
Menhire und Dolmen zu suchen und zu finden wurde ein lustiges Spiel. Unwegsames Gelände, viele Umwege oder Sackgassen, Funde mitten in mannshohen Maisfeldern.
Uns beschäftigte die Frage, was unsere Vorfahren, die noch keine Schrift besaßen, in diesen Steinen gesehen haben und welche Bedeutung sie für ihre Kultur gespielt haben könnten.
Wenn man sich die Menhire ansieht, wie die riesigen Steinkreise in Stonehenge und Carnac oder die zahlreichen Hügelgräber wie in Newgrange, kommt man leicht ins Grübeln und fragt sich: Hatten unsere Vorfahren nichts anderes zu tun, als riesige Steine und Platten zueinander zu bringen?
Die Lebensbedingungen für Menschen in der Steinzeit, mit der Jagd um überlebenswichtige Ernährung und die Weiterentwicklung zu Ackerbau und Viehzucht, stellen wir uns doch als sehr schwer und mühsam vor.
Einzigartig und vielfältig
Irgendwie hatten unsere Vorfahren das Bedürfnis etwas zu gestalten, was größer war als sie. Es war ihnen an vielen Orten wichtig, bedeutende Stätten zu schaffen. Denkmäler die uns heute etwas von den Kulturen der Jungsteinzeit erzählen. Für Jan Assmann beginnt Kultur mit dem Wissen um die Endlichkeit der eigenen Existenz.
Was vor über 6.500 Jahren unsere Vorfahren dazu brachte, einen riesigen Stein aufzustellen, oder ihn mit anderen in Beziehung zu setzen, da können wir nur rätseln. Auch die Wissenschaft findet keine eindeutige Erklärung, warum Menschen Steine aufgestellt haben. Wir wagen einen Versuch:
Menhire erinnern an phallische Symbole. Vielleicht ein Dank an die Stärke, Kraft, Macht – eine Würdigung des Männlichen.
Dolmen, die höhlenartigen Gebilde, stehen als Orte des Schutzes, der Ruhe und der Geborgenheit. Das wäre dann traditionell gesehen, eher dem Weiblichem zuzurechnen. Von der Geburt bis hin zum Tode – eine Würdigung des Weiblichen.
Das besondere daran ist, dass unsere Vorfahren sehr genaue Vorstellungen haben mußten, was sie damit ausdrücken und bezwecken wollten.
Jede Kultstätte ist in ihrer Anordnung einzigartig.
Und alle entstanden lange vor dem Bau der Pyramiden und vor dem Tempelbau in Babylon.
Findling trifft Findling
Die menschliche Natur hat sich wie das Gestein vor Urzeiten entwickelt: Homo sapiens hat mit Neandertalern und anderen frühen Gruppen seine Elemente und Bausteine an uns weitergegeben.
Dieses Erbe wirkt in jedem von uns.
Der Stein will Stein sein und nichts anderes.
Und ab und zu soll es ja vorkommen, dass ein Findling auf einen anderen Findling trifft (zum Glück). Beide sind vom Gegenüber wegen seiner Einzigartigkeit und Fremdheit fasziniert.
Und die rosarote Brille wird von Mutter Natur gleich gratis mitgeliefert.
Häufig eine Begegnung mit weitreichenden Folgen.
Dann dauert es auch nicht mehr allzu lang, bis der Steinmetz in uns erwacht. Hammer und Meißel warten schon auf ihren Einsatz, um den Findling zu verbessern, zu verschönern, zu perfektionieren. Ihn nach unseren Vorstellungen zu behauen – vergeblich.
Der Stein in uns und im anderen ist stärker.
Du bist einzigartig, und ich bin einzigartig
Unsere steinzeitliche Struktur lebt und wirkt weiter, unbehauen wie sie ist. Ein Erbe, das manchmal schwer zu ertragen ist. Dies zu verstehen und zu akzeptieren eröffnet uns neue Möglichkeiten für die Zweierbeziehung:
Du bist o.k. wie du bist, und ich bin o.k. wie ich bin. Thomas A. Harris
Findlinge wollen als einzigartig angesehen und anerkannt werden. Und wie die Franzosen sagen würden „Vive la difference„.
Damit das Leben zu zweit erst richtig interessant wird.