Die Kraft innerer Bilder ist wirksam und stark. Sie bewegt uns zu allerlei Tun und Handeln. Im Guten wie im Schlechten. Darum ist es von Zeit zu Zeit hilfreich, sich dieser Kraft bewußt zu werden. Und sich ihr freundlich zuwenden.
So ist es uns mit unserer Reise nach Mitteldeutschland ergangen. Ein Bild in einer Reisebeilage der Tageszeitung elektrisierte uns sofort. Es zeigte Uta von Naumburg. Und irgendwas ist da mit uns passiert. Wer war diese Frau aus dem 13. Jahrhundert? Wie sah sie in Wirklichkeit aus? Wie kam sie dahin? Wer hat sie geschaffen? Fragen die nicht nur Fragen blieben. Und so wuchs die Neugier und Lust sie selbst vor Ort zu sehen und erleben.
Auf dem Weg zur schönsten Frau des Mittelalters

Wir fahren durch eine sanft geschwungene Hügellandschaft mit kleinen Dörfern, eingetaucht in das milde Licht der Herbstsonne. Weinberge mit Steilterrassen, jahrhundertalte Trockenmauern und romantische Weinberghäuschen prägen diese berühmte Landschaft. Wir sind in der reizvollen Weinregion von Saale-Unstrut.
Von weitem grüßt schon der Naumburger Dom.
Hier spüren wir, dass wir jetzt doch weiter von der alten Zonengrenze entfernt sind, nicht so wie in Eisenach, wo der Westen immer nahe war. Auch finden sich hier mehr leere Flächen und Brachen und viel mehr naturbelassenes Land.
Der Dom thront wuchtig am Rande über der Altstadt; von außen sieht der Stein noch sehr schmutzig aus, belastet von den Abgasen der DDR und der BRD. Doch zu unserer großen Freude erfahren wir, dass die Auszeichnung UNESCO Weltkulturerbe nach vielen vergeblichen Anläufen endlich geklappt hat. Damit verbinden sich große Hoffnungen auf Erneuerung und weitere Restaurierung.
Aber zuerst eine Enttäuschung: der Dom ist reine Gotik. Der ursprünglich romanische Dom mit vielen Gebäudeteilen besteht heute fast nur aus der Epoche der Frühgotik.
Und im Inneren des Doms? Da kommt die nächste Enttäuschung. Im Dom ist es merkwürdig kalt, abweisend und sehr leer. Jedenfalls nicht sehr einladend. Auch die Aufteilung in Ost- und Westchor durch eine mächtige Chorschranke ist verwirrend, so schön sie auch ist.
Zum Abendessen mit Uta

Uta müssen wir zunächst mal suchen. Das ist gar nicht so einfach. Wir haben sie auf einem prominenten Platz erwartet. Sofort sichtbar und für jeden erkennbar. Aber nein, sie steht ganz unscheinbar in einer Reihe mit anderen Steinfiguren in oberster Reihe im Westchor. Hätte ich nur mein Teleobjektiv dabei.
Da stehen sie nun also. Die berühmten Stifter der romanischen Frühkirche aus dem Jahr Eintausend. Zwölf an der Zahl, acht Männer und vier Frauen, davon zwei sehr unterschiedliche Paare. Seltsam, nur die Frauen wirken lebendig. Auf der einen Seite die bescheiden lächelnde und friedfertige Reglindis, und gegenüber die schöne kühle Uta: sie steht als dominierende Figur selbstbewußt, wunderschön gewandet, leicht abgewandt, sich selbst genügend neben ihrem Ehemann.
Wir blicken zu den Stifterfiguren hinauf und nehmen nur Uta wahr. Über ihre Persönlichkeit und ihre Bedeutung kann man nur spekulieren. Bestimmt auch ein Grund dafür, warum Umberto Eco, der Mittelalterkenner, just sie gerne zu einem Abendessen eingeladen hätte.
Der Künstler und die Kraft innerer Bilder

Was hat den unbekannten Meister von Naumburg dazu bewegt, zweihundert Jahre nach dem Ableben der Stifter der ursprünglich romanischen Kirche zwei so ungewöhnliche Menschenpaare zu gestalten? Kein Wunder also, dass sie jahrhundertelang Heerscharen von Bewunderern angezogen haben.
Gut, er konnte in den frühen gotischen Kathedralen Frankreichs seine Kunst erlernt und weiterentwickelt haben. Aber wenn man die beiden Frauen Uta und Reglindis betrachtet, kann man nur staunen und den Künstler und sein Werk bewundern. Es ist überraschend und berührend, wie perfekt, individuell und lebendig der Künstler sie gestaltet hat.
Wie war das im 13. Jahrhundert möglich? Woraus hat der Bildhauer und Architekt des neuen gotischen Doms seine Inspiration bezogen?

Utas Gestalt ist ziemlich außergewöhnlich für eine Skulptur aus dem Mittelalter. Sie ist modern und individuell: ihre Körperhaltung, die Art wie sie sich leicht abwendet, um uns über die Schulter mit wildem, entschlossenem Blick anzusehen aus einem sehr selbstbewußtes Gesicht.
Wer war diese Frau, oder besser, wer war ihr Modell? Oder noch anders, wie hat die Kraft innerer Bilder diesen Künstler inspiriert?
Sich in ein Bild verlieben
Kann man sich in Bilder verlieben?
Dies Bildnis ist bezaubernd schön
singt Tamino, der Held aus der Zauberflöte. Er verliebt sich spontan in das Bildnis der Pamina, das ihm mit dem Auftrag zu ihrer Errettung übergeben wird.
Oder kann man sich sogar in Steinfiguren verlieben?
So wie es uns in Halberstadt erging?

Denn noch ein Bildnis lockt uns auf die Straße der Romanik. Viel weniger berühmt und sagenumwoben, aber für uns mindestens so schön und geheimnisvoll: die blonde Maria von Halberstadt. Auch diese Schöne war gar nicht so einfach zu finden.
Im stolzen Dom von Halberstadt haben wir sie zuerst vermutet. Der Dom ist ein beeindruckendes Beispiel der Frühgotik. Die ehemalige Bischof Stadt verdankt ihn der Konkurrenz zwischen Halberstadt und Magdeburg. Dort steht dieser erste, von Anfang an gotische konzipierte Dom aus dem 13. Jahrhundert. Er ruht noch auf einem massiven romanischen Unterbau und steht, wie für die Ewigkeit erbaut, hoch über der Elbe. Außerdem beherbergt er die berühmte Skulpturengruppe der Zehn Jungfrauen, die das Gleichnis der klugen und törichten Jungfrauen darstellen, aber das ist eine andere Geschichte.
Die von uns gesuchte blonde Schöne finden wir in der heute protestantischen ehemaligen Stiftskirche. Die Liebfrauenkirche liegt am andern Ende des sehr schönen Domplatzes. Unsere Maria ist Teil und Mittelpunkt der Chorschranke des romanischen Gotteshauses. Auch sie ist fast schon tausend Jahre in der Welt. Welcher Künstler hatte die Idee und den Mut eine so ungewöhnliche blonde Madonna zu schaffen?
Sie zu sehen macht froh und glücklich: sie ist zum Verlieben, unsere ruhige und bescheidene Mutter Gottes mit ihren langen blonden Zöpfen.
Die Kraft innerer Bilder kommt mit der ersten Liebe

Bei allem Respekt vor der Macht der Gerüche, sind es doch wohl zuerst unsere Augen, mit denen alles beginnt. Und damit ein Bild in unserem Kopf. Die Schönheitsideale mögen sich wandeln, aber alles beginnt mit einem Bild. Die Kraft innerer Bilder bezeugen unzählige Geschichten und Mythen. Zum Beispiel verliebte sich Paris aus der Odyssee von Homer in ein Bild von Helena. Und dies reichte aus, um ganz Troja für sie zu opfern.
Eine Welt ohne Bilder, einfach unvorstellbar. Und Bilder lenken uns, schon immer. Ob wir wollen oder nicht.
Deshalb tut es gut ein wenig inne zu halten und zu fragen:
– Wie ist das mit der Sehnsucht nach dem Anderen?
– Welches Bild mache ich mir von ihm oder ihr?
– Was lenkt diese Anziehung?
– Wie stark ist sie in uns verankert?
– Hat sie die Kraft uns zu verlieben und zu lieben?
Vielleicht kann hier die gute alte Psychoanalyse im Verbund mit der Neurobiologie mit einer Antwort aushelfen: es ist die Resonanz und die Wirkung der Bilder unserer ersten Liebe, unsere Eltern.
Und wenn es stimmt, dass Karl Lagerfeld festgelegt hat, dass seine Asche mit der seiner Mutter und seiner großen Liebe, Jacques de Bascher, vermischt werden soll, dann hat Sigmund Freud auch hier mal wieder recht.