Schon mal was von Wabi-Sabi gehört? Macht nichts, bis vor kurzen wir auch nicht. Doch halt, vor circa drei Jahren sind wir schon mal über diesen Begriff gestolpert – und – hatten ihn vergessen, jetzt aber durch einen glücklichen Fund wieder entdeckt. Wir möchten Dich in Corona-Zeiten einladen diesen ungewöhnlichen Begriff mit uns näher zu betrachten.
Was ist Wabi-Sabi?
Klingt irgendwie merkwürdig, exotisch und fremd. Dabei ist es relativ einfach zu erklären: Wabi-Sabi ist ein japanisches ästhetisches Konzept, in dem die Einfachheit, die Bescheidenheit und das Natürliche im Zentrum stehen. Es ist eng verwandt mit dem Zen-Buddhismus.
Nicht die offenkundige Schönheit ist das Höchste, sondern die verhüllte, nicht der unmittelbare Glanz der Sonne, sondern der gebrochene des Mondes. Der bemooste Fels, das grasbewachsene Strohdach, die knorrige Kiefer, der leicht berostete Teekessel, das und Ähnliches sind die Symbole dieses Schönheitsideals.“ (wikipedia).
Das unterscheidet sich doch sehr von unseren Schönheitsidealen: glatt, klar, rein, makellos, fehlerfrei. Das Streben nach Vollkommenheit, nach dem Perfekten und zur Selbstoptimierung sind Ausdruck einer Gesellschaft, welche den unbeschwerten Zugang zur Natur verloren hat. In dicken Buchstaben steht darüber KONTROLLE.
Die drei Wahrheiten des Wabi-Sabi lehren uns eine andere Sicht, denn
Nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen und nichts ist perfekt.“
(Richard R. Powell, Wabi-Saba, 2004)
Die Kunst des Zusammenfügens
An deiner Lieblingstasse bricht der Henkel ab, was tust du? Klebstoff suchen und die passenden Teile zusammen fügen, so gut es geht. Und die Tasse mit all ihren Erinnerungen geht nicht verloren.
Wenn das Reparieren geklappt hat, wenn das eigene Tun erfolgreich war, bist du glücklich. Die erneuerte Wertschätzung und Bindung an das reparierte Stück tut gut.
Zugegeben, es klappt nicht immer, mancher Teller oder Lieblingspullover schafft es trotz Reparatur nicht und wir müssen ihn aufgeben. Aber ein Versuch war es wert.
Durch Wabi-Sabi haben Japaner eine andere Vorgehensweise, das Kintsugi entwickelt.
Kintsugi heißt „die Goldreparatur“ und ist die Kunst des Zusammenfügens. Das Objekt gewinnt durch die Reparatur nicht nur Patina, sondern die Goldreparatur betont die Fehlerhaftigkeit des Objekts und hebt sie hervor.
Die Bruchstellen werden durch ein kompliziertes Goldgemisch verbunden und veredelt. Statt zu kaschieren, dass das Objekt nicht mehr heil ist, wird die Bruchstelle besonders betont.
Die Wertschätzung der Fehlerhaftigkeit
Die ursprüngliche Form hält alles zusammen, sie besteht wie alle Materie aus verschiedenen einzelnen Stoffen und Elementen. Wenn diese Verbindung an einer Stelle bricht, entsteht durch die Reparatur eine neue Form, die eine Zeitebene mit einschließt. Die reparierte Form stellt einen andern Bezug zu Zeit und Vergänglichkeit her. Es ist wie eine Einladung an den Betrachter, sich mit der Zeit zu befreunden. Unsere reparierten Objekte stehen als Zeugen für das immer wieder neu Zusammengefügte.
Nichts und niemand besteht nur aus einem Element.
Die Wertschätzung der Fehlerhaftigkeit ist Kern der Wabi-Sabi-Ästhetik.
Nur mal so, als Frage: kann man das auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen oder auf unser seelischen Erleben übertragen?
Und wenn ja, was bedeutet das?
Mut zur Unvollkommenheit
Dinge kann man reparieren. Zum Beispiel einen kaputten Fahrradschlauch oder eine zerbrochene Tasse. Aber Menschen oder Beziehungen? Naja, bei einem Beinbruch oder einer Schnittwunde hat die Natur schon vorgesorgt. Wie ein Wunder – das entspricht dem Heilen.
Und bei seelischen Dingen? Was geht da kaputt? Eine „Beziehung geht in die Brüche“, Vertrauen geht verloren, eine Beziehung nutzt sich ab, bekommt Risse …
Und reparieren wäre dann sowas wie versöhnen, vergeben, trösten, aushalten, sich ermutigen …?
Gemeinsam mit Mut die Unvollkommenheit leben, meint unfertiges, sich änderndes, auch gekittetes, eben dynamisches, eigentlich evolutionäres zu akzeptieren.
Mit zunehmender Lebenserfahrung lernen wir, dass die Sehnsucht nach dem Perfekten auf Dauer nicht wirklich hilft. Vielleicht hilft doch eher ein wohlwollende Blick auf die Brüche und Risse und die Erkenntnis damit immer wieder Schönes zu schaffen, was der Zeit trotzen möchte.
Man kann die Schönheit bei alten Beziehungen sehen. Man erkennt ihre Bruchstellen und die Mühe, die sich beide geben, dass die Form zusammenhält, damit es gut weitergeht.
Alles fängt mit der Entscheidung zum Reparieren an.