
„Alles neu macht der Mai, macht die Seele frisch und frei…“, so der Beginn eines alten Volkslieds. Eine Ode an das Frühjahrserwachen. Das alte Jahr ist vergangen. Man fühlt sich befreit von der winterlichen Kälte und den dunklen Tagen, „nach des Winters Nacht“. Es kommt uns vor, als wäre alles neu und die Seele frisch und frei: Vom Zauber des Neuanfangs in der Natur und im Gemüt.
So sieht der Frühling aus. Und so spricht er: ohne Schnörkel, ohne Falschheit. Das Dasein wie es ist, die reine Wahrheit, durch seine berauschende Blütenpracht. Kein Fake, es ist die Natur pur. So ist ihr Gesetz: aus alt wird neu; das Alte wird vergehen, das Neue bahnt sich seinen Weg und baut auf dem Alten auf, kein Neues ohne das Alte. Gründe genug das Alte anzuerkennen. Und sich zu freuen, das Alte in Frage stellen zu können und bereit zu sein für das Neue.
Nach des Winters Nacht

Sechs Monate Winter stecken noch in den Knochen. Mühsam steigen wir den Hang zum Garten hinauf. Stufe für Stufe führt der Weg uns höher und höher. Jetzt haben wir den alten Garten am Rande der Wildnis erreicht. Ganz oben liegt er auf den letzten Terrassen eines alten Weinberges.
Wie jedes Jahr ist dies ein besonderer Moment. Wie hat der Garten die kalte Ruhezeit überstanden? Welche Pflanzen kamen durch, welche haben aufgegeben? Vom Zauber des Neuanfangs ist noch nichts zu entdecken. Der Winter hinterläßt starke Spuren; Welkes, Dürres, Abgestorbenes, Vertrocknetes, so weit das Auge reicht.
Platz für das neue Leben

Und wir machen uns dran wieder Platz zu schaffen für das neue Leben. Den Rechen, den Spaten und den Sauzahn auf Rost und Halt prüfen und loslegen. Jetzt geht es an’s hacken, jäten und sägen.
Der Muskelkater wartet schon; wir fühlen uns lebendig.
Den Anfang machen die vielen welken Blätter. Wir rechen sie zusammen und stopfen sie in große Säcke. Dann gilt es die abgefallenen Äste einzusammeln, die Bäume zu begutachten und zu schneiden.
Zuerst die Obstbäume: Die Wassertriebe müssen weichen und werden abgesägt, die Krone wird in Augenschein genommen und gerichtet, streng nach dem monarchischen Prinzip wird auf die Symmetrie geachtet.
Zum Schluß das Gras: kraftvoll mit dem Rechen das Moos entfernen.
Vom Zauber des Neuanfangs
In diesem Frühjahr schenken wir den Forsythien unsere Aufmerksamkeit: alte Äste absägen und abschneiden um den Jungtrieben die Chance zu geben, neue Blüten bilden zu können. Ein sogenannter Verjüngungsschnitt, welchen die Forsythien etwa alle drei Jahre bekommen sollten.
Die letzten zehn Jahre haben wir sie jedoch aus Unwissenheit, Bequemlichkeit und Achtlosigkeit vernachlässigt. Übrig geblieben sind nur noch lange dünne Zweige mit vielen Blättern ohne Blüten.
Woher kommt die Achtlosigkeit?
Wieso haben wir die Forsythien so lange vernachlässigt und warum hat es uns nicht gestört?
Für das Neue sorgt nun die Natur. Dass das geschieht ist wie ein Wunder.
Auf was es ankommt
Vom Zauber des Neuanfangs wußten unsere Vorfahren eine ganze Menge. Dies zeigt sich in den Mai Traditionen seit Jahrhunderten, unter anderen in dem Mai Gedichten, dem Aufstellen des Maibaums, beim Tanz in den Mai, dem Mai-Ansingen:
Die Erneuerung willkommen zu heißen und zu nutzen, auch im Gemüt, vor allem da.
Ein Loblied auf den Zauber des Neuanfangs
Und hier das ganze Gedicht. Verfaßt wurde es vor genau 200 Jahren von Hermann Adam von Kamp (1796-1867).
Alles neu macht der Mai
macht die Seele frisch und frei.
Laßt das Haus, kommt hinaus,
windet einen Strauß!
Rings erglänzet Sonnenschein
duftend pranget Flur und Hain
Vogelsang, Hörnerklang
tönt den Wald entlang.
Wir durchzieh’n Saaten grün
Haine, die ergötzend blüh’n
Waldespracht – neu gemacht
nach des Winters Nacht.
Dort im Schatten an dem Quell
rieselnd munter, silberhell
klein und Groß ruht im Moos
wie im weichen Schoß.
Hier und dort, fort und fort
wo wir ziehen Ort für Ort
Alles freut sich der Zeit
die verjüngt, erneut
Widerschein der Schöpfung blüht
uns erneuernd im Gemüt.
Alles neu, frisch und frei
Macht der holde Mai.